Odins Walknoten



Odin am Baum
Lebendige Mythen - Ein Weg zu den Göttern

Eine Geschichte beginnt immer mit es war einmal,
nur diese nicht, denn sie ist ein lebendiger Mythos.

Dunkelheit umgab ihn. „Ist mein Auge offen? Kann ich sehen?“ Die Frage verlor sich, driftete hinein in die schlingende Schwärze. Die Worte wurden zerpflückt, zerfielen in Buchstaben. Diese in Striche, die sie auflösten. Fiel er, hatte er sich verloren? Da waren feste Linien, Striche die ihn hielten. Sie gaben ihm Form hielten ihn zusammen, von ihnen wurde er gepresst an die rauhe Borke. „Was ist da Hinten?“ Eine Stimme nahm Form an, sie saß auf seiner Schulter. „Ist er tot?“

Da war noch eine weiter entfernte Stimme, „Ich will das eine Auge.“

Sein Mund war trocken, die Zunge lag schwer darin. Worte rollen über aufgesprungene Lippen.

„Verschwindet mach euch davon!“

„Willst Du Wasser? Ich bringe dir welches für das Auge.“ Die Stimme setzte sich auf die linke Schulter. Scharfer Schmerz, Krallen in seiner Schulter. Es wurde warm, es tropfte, es rann. Rot wurde es in der Schwärze.

„Verschwindet!“, keuchte er.

Die Schatten flogen auf. Setzten sich über ihn ins Geäst dort warteten sie. Er war verbunden, gebunden mit dem Baum. Raue Borke war nun glatter Stamm, die Tropfen seines Blutes färbten weiße Rinde rot. Bis hinab in die Wurzel spürte er, fühlte er halt, das Saugen, das Punpen des Lebenssaftes. Hinauf über den Stamm in die Äste, verzweigt sich mehr und mehr, verästelt sich bis hinein in das Blatt. Der Baum umfasste alles, war Zentrum und Rand des Seine. Es war Yggdrasil, er war Yggdrasil. Die eigenen Grenzen vergessend bis an den Rand vorzudringen. Alles hatte seinen Platz. „Alles? Wo bin ich? Wo ist mein Platz?“ Überall sein, nirgendwo sein, verloren sein!

Das Blatt löste sich, fiel. Ein Sturz hinein in die Welt, Losgelöst von Ort und Zeit. Tag folgte auf Nacht und Nacht auf Tag. Das Seil löste sich, doch fiel es nicht. Er streckte die Arme aus, fühlte die Äste, griff darüber hinaus, wuchs in den Boden und auch in den Himmel hinein. Alles umfassend, ergreifend, begreifend. Aus Teilen wird ein Ganzes. Teile die nie verbunden schienen ergeben Sinn.

Er kehrte wieder, da war er, stand sich gegenüber Auge in Auge. Hängend, stehend, über Kopf alles in einem war er. Auge, Schlapphut, Mantel und Speer sieht er. „Wer ist er?“ Odin trifft Odin, durchbohrt von dem Speer. Durchdrungen von der Spitze bis über den Schmerz hinaus. Die Lippen öffneten sich. Ein stummer Schrei. Tränen schossen ins Auge, vernebelten den Blick. Er schloss das Auge, öffnete es. Er sah, das Bild gebrochen, verformt. Ein Auge, ein Mann wie er. Das Bild zerbrach, zerfiel. Scherben fielen langsam, als wäre Zeit für sie ohne Belang.

Ein Fragment: Wasser, ein Brunnen in dem sich ein Gesicht spiegelt. Etwas fällt hinein. Eine Hand die danach greift, aber sie greift ins Leere und das Auge sinkt in den Brunnen. Es sieht.

Ein Fragment: Erde, durch die er sich gräbt. Gelangt zum süßen Nektar des Skaldenmet und nimmt ihn an sich.

Ein Fragment: Feuer, an dem er sitzt. Umringt von Menschen, die an seinen Lippen hängen ist er, als er erzählt. Sie kennen seinen Namen nicht, aber doch zeigt er ihnen die Welt.

Ein Fragment: Luft, ist unter ihm, als er mit Sleipnir dem Achtbeinigen über den Himmel rast. Sein Weg führt ihn gen Asgard.

Die Scherben trudeln, sie fallen die kleinen und großen Scherben. Die Bande fallen von ihm ab. Odin stürzt zu Boden, zurückgeworfen auf sich. Auf den Knien, der Geist weit offen. Langsam erhebt er sich, schreitet über die Scherben am Boden hinweg. „Euch brauche ich nicht, denn ich habe gesehen.“ Sein Mantel streift die Fragmente unter sich, Zeichen sind geblieben von dem was er sah.

„Gedanke und Erinnerung folgt mir.“ Aus dem Baum erheben sich die Schatten, setzten sich auf seine Schultern. Als Suchender kam er, erfahren hat er und doch seine Reise hat erst begonnen, denn er ist Odin.

Michael Schütz

Michael Schütz - Asatru Ring Midgard - www.asatruringfrankfurt.de - Aufgeklärtes Asatru

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